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100. Semester: Professor Frieder Nake feiert ungewöhnliches Jubiläum

Prof. Frieder Nake (83) beginnt bald sein 100. Semester an der Universität Bremen. Eines seiner frühen Arbeitsgeräte: ein Macintosh Classic II, ein über 30 Jahre alter legendärer Rechner. © WFB/Jörg Sarbach

Ein solches Jubiläum dürfte in der Hochschulgeschichte selten sein: Im April 2022 startet Professor Frieder Nake an der Universität Bremen in sein 100. Semester. Auch nach 50 Jahren als Informatik-Dozent hat der 83-Jährige seinen Studierenden noch eine Menge mit auf den Weg zu geben.

Dass es bei ihm letztlich doch in so geordneten Bahnen laufen würde, hätte Frieder Nake zu Beginn seiner Laufbahn wohl nicht erwartet. Nachdem der studierte Mathematiker 1967 in Stuttgart über die Wahrscheinlichkeitstheorie promoviert hatte, war er nach Kanada ausgewandert – weil ihm das deutsche Hochschulwesen „zu verknöchert“ war, wie er sagt. In Toronto und Vancouver forschte und lehrte er einige Jahre in den Bereichen Computerkunst und Informatik, eine Rückkehr nach Deutschland hatte er ursprünglich nicht im Sinn.

Das änderte sich, als er erfuhr, dass in Bremen 1971 eine Reformuniversität gegründet wurde, die die gesellschaftliche Relevanz von Forschung und Lehre in den Mittelpunkt stellte und an der Studierende und Lehrende gleichberechtigt sein sollten. Ein Jahr später war er in Bremen. „Ich dachte: Da muss ich unbedingt dabei sein“, erinnert sich der 83-Jährige.

Der Computer: Vom Exoten zum ständigen Begleiter
50 Jahre ist es nun her, dass er eine Professur für Grafische Datenverarbeitung und interaktive Systeme an der Universität Bremen annahm. Das war zu einer Zeit, als noch kein Mensch einen eigenen Computer besaß. „Das ist heute unvorstellbar“, sagt er, „aber damals musste man sich anmelden, um eine Stunde mit dem Rechner arbeiten zu können.“ Die Informatik war zu der Zeit noch Teil der Elektrotechnik, und Nake machte es sich zur Aufgabe, sein eigenes Fachgebiet von Anfang an kritisch zu hinterfragen. „Ich wollte, dass wir uns als Gesellschaft klarmachen, was die Programme anrichten können, die Informatiker schreiben“, erzählt er.

Längst sind Computer zu ständigen Begleitern im Alltag geworden. Bei allen Veränderungen der vergangenen fünf Jahrzehnte, ist bei Nake eines gleichgeblieben: Der Professor hat noch immer einen kritischen Blick auf die Welt im Allgemeinen und die Informatik im Speziellen – und einen engen Draht zu seinen Studierenden.

Erzählungen statt Vorlesungen
Vorlesungen im landläufigen Sinne hält er keine, auch wenn seine Lehrveranstaltungen im offiziellen Uni-Verzeichnis so benannt sind. „Ich lese ja nichts vor“, betont er, „und mündlich zu sagen, was in Büchern steht, finde ich absurd.“ Stattdessen haben die Studierenden bei ihm Erzählungen zu erwarten: „Ich erzähle aus meinem Leben, ich bringe ihnen erzählerisch Fachwissen näher, ich rege sie zum Mitdenken und Hinterfragen an. Und ich mache ihnen schon am ersten Tag klar, dass sie von mir nichts lernen werden. Lernen können sie nur von sich selbst.“ Er schaffe lediglich Situationen, in denen die Studierenden lernen können, sofern sie das denn wollen.

Zum normalen Umgang gehört es für den Professor, sich mit allen zu duzen, auch wenn er inzwischen um ein Vielfaches älter ist als die meisten seiner Studierenden. Das erleichtert aus seiner Sicht nicht nur die Kommunikation: „Das zeigt auch, dass alle gleich sind und man keine Obrigkeiten anerkennt. Hierarchien waren mir schon immer ein Graus.“

Vom Marxismus geprägter Informatiker
Es passt ins Bild, dass er in seinen Anfangsjahren in Bremen als „radikaler Linker“ bekannt war, was in der Szene der Informatiker eher ungewöhnlich war. Nake engagierte sich im Kommunistischen Bund Westdeutschland und musste sich in den 1960er- und 1970er-Jahren aus politischen Gründen mehrfach vor Gericht verantworten. Seinen Grundüberzeugungen ist er bis heute treu geblieben, und so prägen der Marxismus und der Aufruf zum dialektischen Denken bis heute seine Lehre. „Ich würde gerne mal meine Akte sehen“, sagt er und grinst. Aber irgendwie hat dafür bisher immer die Zeit gefehlt: „Und so sehr interessiert es mich dann auch wieder nicht.“

Prof. Frieder Nake in der Ausstellung seiner Werke im Bremer Gerhard Marcks Haus. Die Ausstellung Zeichen.Setzen läuft bis zum 29. Mai 2022. Nake gilt weltweit als Pionier der Computer-Kunst. Bereits Mitte der 1960er Jahre nutzte er Computer für seine Werke. Hier vor einem Bildschirm mit seinem Werk „Hommage à Vera Molnar“, 2018/2022 – ein dynamisch-algoritmisches Bild.

Pionier der Computerkunst
Einen Namen weit über die Grenzen Bremens hat sich Frieder Nake vor allem auf einem anderen Gebiet gemacht: Er gilt als einer der Pioniere der Computerkunst. Mit ersten künstlerischen Versuchen begann er schon in den 1960er-Jahren. 1965 hatte er eine Ausstellung mit Computerkunst in Stuttgart, es war weltweit erst die dritte dieser Art. Noch immer verbringt er einen guten Teil seiner Freizeit damit, Programme zu schreiben, die den Computer Bilder erstellen lassen. „Ich denke das Bild, der Computer macht es“, erläutert er. „Dafür muss mein Denken so scharf werden, dass die Maschine es ausführen kann – und das muss in Algorithmen umgesetzt werden.“

Das radikal Neue an diesem Ansatz sei damals gewesen, eine unendliche Menge an Bildern gleich mitzudenken: „Denn das Programm läuft immer weiter und erzeugt immer wieder neue Bilder.“ Wie das aussehen kann, ist im Bremer Gerhard-Marcks-Haus zu sehen, wo bis Ende Mai 2022 vier Installationen und einige Grafiken von ihm ausgestellt sind.


„101 ist auch eine schöne Zahl“
Als Gastdozent hat der 83-Jährige in früheren Jahren die Welt bereist: So lehrte er unter anderem an den Universitäten Wien, Århus, Oslo und Basel, für kürzere Zeiträume auch in Nordamerika und Brasilien. Nach Bremen kehrte er immer wieder gerne zurück. „Ich kann mich mit der Bremer Uni immer noch identifizieren, und in der Stadt herrscht generell eine sehr liberale Haltung.“

Dass er seit 2004 offiziell pensioniert ist, hat für ihn nicht viel verändert: „Ich mache dasselbe wie vorher – nur für weniger Geld.“ Er brauche den Umgang mit den jungen Leuten, sagt der Professor. Und ergänzt nachdenklich: „Wahrscheinlich hilft mir das, lebendig zu bleiben. Wenn ich merkte, dass ich keinen Zuspruch mehr bekomme, würde ich aufhören.“

Doch am Zuspruch wird es auch in Zukunft nicht mangeln. Noch immer betreut er „nebenbei“ acht Doktoranden, und als er seinen Studierenden neulich ankündigte, nach dem jetzt beginnenden 100. Semester aufhören zu wollen, hagelte es Proteste. „Na ja“, meint Frieder Nake, „101 ist ja auch eine schöne Zahl. Eine Primzahl sogar. Vielleicht hänge ich doch noch eins dran.“

Text: Anne-Katrin Wehrmann
Fotos: Jörg Sarbach